Ordos sollte ein Symbol für Fortschritt, Wohlstand und modernes Stadtleben werden. Inmitten der Wüste, im autonomen Gebiet der Inneren Mongolei, entstand seit Anfang der 2000er Jahre ein Stadtteil der Superlative – mit ikonischer Architektur, kilometerweiten Boulevards und Platz für über eine Million Menschen. Doch trotz Milliardeninvestitionen blieb die Vision weitgehend menschenleer. Statt pulsierendem Leben: Stille. Statt florierender Infrastruktur: Leerstand.
Ordos steht heute als ein Mahnmal dafür, wie ehrgeizige Projekte scheitern können, wenn Planungslogik und Realität zu weit auseinanderdriften. Doch es ist kein einfacher Fall von Missmanagement – die Ursachen liegen tiefer.
Die Stadt Ordos selbst existierte bereits, doch der neu geplante Stadtteil Kangbashi sollte alles in den Schatten stellen, was die Region bisher gesehen hatte. Finanziert wurde das Projekt durch die enormen Einnahmen aus dem Kohlebergbau, die Ordos in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren zu plötzlichem Wohlstand verholfen hatten. Diese wirtschaftliche Basis nutzte die Lokalregierung, um eine ambitionierte Vision Wirklichkeit werden zu lassen: den Aufbau einer Modellstadt für das 21. Jahrhundert.
Geplant war eine Metropole mit Platz für bis zu einer Million Menschen, ausgestattet mit hochwertigem Wohnraum für die neue städtische Elite. Die Stadtarchitektur sollte modern und anspruchsvoll sein, ergänzt durch eine Infrastruktur mit Theatern, Bibliotheken, Museen und imposanten Verwaltungsgebäuden. Kangbashi war als Aushängeschild gedacht – ein Ort, der mit westlichen Metropolen mithalten und Chinas Fortschritt sichtbar machen sollte.
Der Staat setzte dabei auf Tempo: In kürzester Zeit entstand eine städtische Kulisse, die auf Fotos beeindruckte – doch die entscheidende Frage blieb unbeantwortet: Wer würde dort leben?
Trotz der beeindruckenden Investitionen blieb der große Durchbruch aus. Bereits wenige Jahre nach Fertigstellung war klar: Die Stadt war weitgehend unbewohnt. Berichte von Journalisten, Architekturfotografen und Dokumentarfilmern machten Ordos zu einer internationalen Kuriosität – einer Geisterstadt mit nagelneuen Gebäuden, aber ohne Bewohner.
Das Beispiel Ordos macht deutlich, wie weit Anspruch und Realität bei Großprojekten auseinanderklaffen können – selbst dann, wenn Finanzierung, politischer Wille und technologische Möglichkeiten grundsätzlich vorhanden sind. Die Gründe für das Scheitern des Projekts sind vielschichtig, lassen sich aber auf einige zentrale Aspekte zurückführen, die auch in anderen Kontexten eine Rolle spielen können.
Ein wesentliches Element war der fehlende Abgleich zwischen Vision und tatsächlichem Bedarf. Der Bau einer neuen Stadt für über eine Million Menschen wurde beschlossen, ohne zuvor ausreichend zu analysieren, ob es überhaupt eine Zielgruppe gibt, die ein Leben an diesem Ort in Erwägung zieht. Zwar war der wirtschaftliche Aufschwung durch den Kohleboom real, doch eine fundierte Bedarfsanalyse fehlte. Die daraus resultierende Fehlentwicklung zeigt, dass es nicht ausreicht, ein Projekt umsetzen zu können – es muss auch nachvollziehbar und realistisch begründet sein.
Hinzu kommt, dass die Stadt Ordos zwar über eindrucksvolle Gebäude, breite Straßen und moderne Einrichtungen verfügte, es jedoch an einem funktionierenden sozialen und wirtschaftlichen Gefüge fehlte. Infrastruktur gewinnt erst dann an Bedeutung, wenn sie im Zusammenspiel mit anderen Faktoren steht: mit Arbeitsplätzen, mit sozialen Netzwerken, mit kulturellem Leben. Wo diese Verknüpfung fehlt, bleibt selbst die ambitionierteste Bauleistung letztlich wirkungslos.
Ein weiterer Aspekt war die fehlende Einbindung der späteren Nutzerinnen und Nutzer in die Planung. Ordos wurde in einem Top-down-Verfahren konzipiert, das wenig Rücksicht auf lokale Bedürfnisse oder kulturelle Gegebenheiten nahm. Die Identifikation der Bevölkerung mit dem neuen Stadtteil war entsprechend gering, ebenso wie die Motivation, dorthin zu ziehen. Beteiligungsprozesse und Stakeholderdialoge können hier wesentlich zur Akzeptanz und zur inhaltlichen Relevanz eines Projekts beitragen – nicht nur in demokratischen Gesellschaften, sondern auch in zentralistisch gesteuerten Strukturen.
Schließlich spielte auch der wirtschaftliche Kontext eine entscheidende Rolle. Die rasche Umsetzung des Projekts wurde wesentlich durch die hohen Einnahmen aus dem Rohstoffsektor ermöglicht. Doch als diese Quelle versiegte, zeigte sich, dass die Stadt auf einem unsicheren Fundament stand. Die langfristige Tragfähigkeit eines Projekts sollte nicht ausschließlich auf temporärem Wohlstand basieren – wirtschaftliche Diversität, vorausschauende Planung und Risikobetrachtung können helfen, auch in Zeiten rückläufiger Konjunktur Stabilität zu gewährleisten.
Inzwischen hat die Stadt zaghaft begonnen, sich zu füllen. Behörden wurden gezielt dorthin verlegt, neue Universitäten angesiedelt. Auch Infrastrukturmaßnahmen wurden weiter ausgebaut. Dennoch bleibt Ordos bis heute ein Symbol für eine Stadt, die ihrer Zeit – oder besser gesagt: ihrer Nachfrage – weit voraus war.
Das Projekt ist damit nicht nur ein gescheiterter Städtebau, sondern auch ein lehrreiches Fallbeispiel für Projektverantwortliche in aller Welt.
Ordos erinnert uns daran, dass auch mit unbegrenztem Budget und politischen Rückhalt kein erfolgreiches Projekt garantiert ist. Der zentrale Aha-Effekt: Projekte brauchen mehr als gute Ideen – sie brauchen Bodenhaftung, echte Bedarfsorientierung und nachhaltige Strukturen.
Ob im Städtebau, in der IT oder im sozialen Bereich: Wer Projekte nur aus der Vogelperspektive plant, riskiert leere Hüllen – oder im schlimmsten Fall: Geisterstädte.
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Katja Bäumel ist als PR-Managerin mit den Schwerpunkten „Online- und Bewegtbildredaktion“ bei der GPM tätig. Zuvor war sie, neben diversen Auslandsaufenthalten, als Projektleiterin für die Online-Redaktion von unternehmer.de sowie für Projekte bei der Volkswagen AG, der Deutschen Bank AG und Russell Hobbs verantwortlich.
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