
Viele Projekte scheitern in vielen Fällen nicht an fehlenden Ressourcen, sondern an unklaren Anforderungen. Ziele werden in Workshops formuliert, zum Beispiel in der Form: „Wir wollen digitaler werden“. Doch solche Aussagen bleiben oft so allgemein, dass niemand genau weiß, ob sie erreicht wurden.
Methoden wie Lastenhefte, OKR (Objectives and Key Results) oder SMART-Ziele helfen nur bedingt. Lastenhefte sind oft zu vage, OKR zu grob und SMART zu eng gefasst. Eine Zielhierarchie bietet hier eine Lösung: Sie zerlegt ein übergeordnetes Projektziel systematisch in immer konkretere Unterziele, bis diese überprüfbar und messbar werden.
Unter einer Zielhierarchie versteht man also die schrittweise Verfeinerung eines abstrakten Projektziels in klare, überprüfbare Ergebnisse. Mit einer algorithmischen Beschreibung und der Unterstützung durch Künstliche Intelligenz (KI) wird die Zielhierarchie zu einem Werkzeug, das die Anforderungsaufnahme effizienter und präziser macht.
Der Algorithmus zur Erstellung einer Zielhierarchie folgt einem einfachen, wiederholbaren Prinzip. Zunächst wird ein allgemeines Projektziel formuliert, das als Ausgangspunkt auf Level 0 dient. Dieses Grobziel wird anschließend Schritt für Schritt in Unterziele zerlegt, bis alle Teilziele konkret genug sind, um überprüft werden zu können.
Die Vorgehensweise lässt sich so beschreiben: Ausgehend vom Grobziel werden Unterziele abgeleitet, die das Ziel vollständig, aber konkreter beschreiben. Dafür werden Eigenschaften, Anforderungen und Rahmenbedingungen genutzt. Fehlende Angaben werden durch Rückfragen oder zusätzliche Recherchen ergänzt. Optional können die Ziele zusätzlich nach Dimensionen wie Leistung, Kosten oder Terminen gegliedert werden.
Nach jeder Detaillierungsrunde wird geprüft: Ist das Unterziel bereits so formuliert, dass sich nach Projektabschluss eindeutig feststellen lässt, ob es erfüllt wurde? Falls ja, ist das Ziel operationalisiert und die Zerlegung kann hier enden. Falls nein, wird das Ziel auf der nächsten Ebene weiter konkretisiert. Man kann sich diesen Prozess bildlich wie einen Baum vorstellen, der von der Wurzel (dem Grobziel) bis zu den Blättern (den überprüfbaren Teilzielen) wächst.
Genau diesen Prozess kann eine KI im Dialog mit Projektbeteiligten durchführen – Schritt für Schritt, mit Rückfragen, Verfeinerungen und einer strukturierten Dokumentation.
Für eine KI wäre dieser Vorgang dann wie folgt algorithmisch zu beschreiben:
1. Startpunkt: Formuliere das allgemeine Projektziel (Level 0).
2. Detaillierung:
3. Prüfung:
4. Abschluss: Algorithmus endet, wenn alle „Blätter“ überprüfbare Ziele darstellen.
Genau diesen Prozess kann eine KI im Dialog durchführen – Schritt für Schritt, mit Rückfragen und Dokumentation.
Angenommen, das Grobziel lautet: „Das deutsche Abiturzeugnis liegt digital vor.“ Dieses Ziel klingt klar, ist aber inhaltlich noch zu allgemein. Die Aufgabe der Zielhierarchie besteht nun darin, dieses Ziel so weit zu konkretisieren, bis es in überprüfbare Unterziele zerlegt ist.
Im ersten Schritt entstehen mögliche Unterziele wie: Das Zeugnis liegt im PDF- und XML-Format vor. Es ist mit einer qualifizierten Signatur versehen. Es wird dezentral durch alle Schulen in Deutschland erstellt. Ab dem Jahr 2026 ist es bundesweit verfügbar. Und: Absolventinnen und Absolventen können es DSGVO-konform nutzen. Einige dieser Ziele sind bereits überprüfbar, andere müssen noch weiter präzisiert werden.
Die KI kann an dieser Stelle gezielt nachfragen, zum Beispiel: Wer stellt sicher, dass die Formate eingehalten werden? Welche Infrastruktur übernimmt die Signatur? Und wie erfolgt die langfristige Archivierung? Auf diese Weise wächst Schritt für Schritt ein Zielbaum, der aus einem abstrakten Vorhaben eine überprüfbare Anforderung macht.
Ein weiteres Beispiel: Das Grobziel lautet hier: „Eine neue Service-App für Bürgerinnen und Bürger liegt im App Store vor.“ Auch hier muss das Ziel zunächst präzisiert werden. Die erste Zerlegung könnte ergeben: Die App ist für iOS und Android verfügbar. Sie enthält mindestens fünf definierte Verwaltungsdienste. Der Zugang erfolgt über ein sicheres Login, zum Beispiel mit der BundID. Die Barrierefreiheit nach BITV 2.0 ist gewährleistet. Und der Betrieb ist für mindestens fünf Jahre gesichert.
Doch auch diese Unterziele werfen sofort neue Fragen auf: Welche Verwaltungsdienste genau sollen enthalten sein? Welche Schnittstellen müssen integriert werden? Und wie wird die langfristige Finanzierung des Betriebs abgesichert? So entsteht eine präzise Anforderungsliste, die im Projektteam direkt genutzt werden kann.
Wie können Projektteams die Methode der Zielhierarchie im Zusammenspiel mit KI praktisch einsetzen? Einige Hinweise erleichtern den Start:
Natürlich hat auch diese Methode ihre Grenzen. Unklare Angaben führen unweigerlich zu unklaren Unterzielen. Fachbegriffe sollten erklärt werden, um Missverständnisse zu vermeiden. Und nicht zuletzt: Die Verantwortung für Entscheidungen bleibt beim Projektteam. Die KI liefert Vorschläge und Struktur – aber sie nimmt niemandem die Entscheidung ab.
Die Idee der Zielhierarchie ist seit Jahrzehnten bekannt. Ihre algorithmische Umsetzung in Kombination mit KI macht sie jedoch zu einem echten Gamechanger im Anforderungsmanagement. Wo früher wochenlange Workshops nötig waren, entstehen heute durch strukturierte Dialoge in kürzester Zeit überprüfbare Anforderungen. Auch große Programme bleiben beherrschbar, weil sie systematisch in Teilziele zerlegt werden können. Und es eröffnen sich neue Perspektiven: eine KI-gestützte Applikation, die das Anforderungsmanagement nicht nur unterstützt, sondern in Teilen automatisiert und skaliert.
Probieren Sie es aus: Geben Sie einer KI ein Grobziel, beantworten Sie ihre Rückfragen – und erleben Sie, wie aus einer vagen Idee ein vollständiger Zielbaum entsteht. Vielleicht brauchen wir in Projekträumen bald keine Post-its mehr, weil die Anforderungsaufnahme längst digital im Dialog mit einer KI geschieht.
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Guido Bacharach arbeitet seit über 20 Jahren im (Multi-)Projektmanagement mit Schwerpunkt auf IT-gestützte Geschäftsprozesse des Handels und des öffentlichen Dienstes. Er berichtet in diesem Blog, wie in der Praxis Projekte, Programme und Projektportfolios effektiv geführt werden können.
g.bacharach@gpm-ipma.de
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