
Die Umsetzung großer Infrastrukturprojekte erfordert nicht nur technisches Know-how, sondern auch eine intensive und koordinierte Zusammenarbeit über Länder- und Kulturgrenzen hinweg. Ein aktuelles Beispiel für eine derartige Herausforderung bietet der Bau eines 600-Megawatt-Kombikraftwerks in Polen, das im Rahmen der nationalen Energiewende entsteht. Das Projekt wird von einem Konsortium unter Leitung von Siemens Energy umgesetzt und verfolgt das Ziel, ältere Kohlekraftwerksblöcke durch eine deutlich emissionsärmere Lösung zu ersetzen.
Polen befindet sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess im Energiesektor. Ziel ist es, die Abhängigkeit von Kohle deutlich zu reduzieren und die CO₂-Emissionen spürbar zu senken. Das vorgestellte Kraftwerksprojekt trägt zur Abschaltung von fünf kohlebasierten Blöcken bei, wodurch die jährlichen Emissionen um mehr als eine Million Tonnen reduziert werden. Der Baustart erfolgte im Dezember 2023, aktuell befindet sich die Anlage im Aufbau.
Die Umsetzung des Projekts erfolgt im Rahmen eines EPC-Vertrags (Engineering, Procurement, Construction). Beteiligt sind unter anderem Einheiten von Siemens Energy aus Deutschland, Polen, Indien und Rumänien sowie der Partner Metlen aus Griechenland. Die Projektorganisation bringt nicht nur technologische Kompetenzen zusammen, sondern auch Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Arbeitsweisen.
Diese internationale Struktur bietet zahlreiche Vorteile: Zugriff auf globale Expertise, vielfältige Perspektiven und flexible Ressourcennutzung. Gleichzeitig erfordert sie eine bewusste Auseinandersetzung mit interkulturellen Unterschieden. Um das gemeinsame Verständnis zu fördern, wurde frühzeitig ein Team-Building-Workshop außerhalb des Projektstandorts organisiert. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse flossen direkt in die weitere Zusammenarbeit ein.
Ein zentrales Element der Projektdurchführung ist der Einsatz moderner Planungstools. Bereits in der Entwurfsphase wurde mit dreidimensionalen Modellen gearbeitet, um potenzielle Kollisionen und Planungsfehler frühzeitig zu erkennen. Die Verwendung von Building Information Modeling (BIM) ermöglichte eine präzise Koordination aller Schnittstellen, insbesondere im Zusammenspiel verschiedener Gewerke.
Sobald ein Konflikt im digitalen Modell identifiziert wurde, konnte dieser durch gezielte Rückmeldung an die Designteams korrigiert und dokumentiert werden. Ziel war es, Überraschungen auf der Baustelle zu vermeiden, eine hohe Qualität ab dem ersten Versuch zu erreichen und eine kontinuierliche Bauabfolge zu sichern.
Ein weiteres zentrales Thema war der Umgang mit Abweichungen von den vertraglich vereinbarten Spezifikationen. In der Praxis zeigte sich, dass manche technischen Anforderungen durch bewährte Alternativen besser erfüllt werden konnten – etwa durch die Verwendung eines Kühlers anstelle eines radiatorenbasierten Designs bei Ölgefüllten Transformatoren. Wichtig war dabei, dass solche Vorschläge offen kommuniziert, durch den Kunden sorgfältig geprüft und bei Eignung akzeptiert wurden. Dieses Vorgehen setzte gegenseitiges Vertrauen sowie eine klare und transparente Kommunikation voraus.
Die Komponenten des Kraftwerks stammen aus unterschiedlichen Teilen der Welt. Generatoren werden in den USA gefertigt, Gas- und Dampfturbinen in Deutschland, Wärmerückgewinnungskomponenten in Südkorea und Transformatoren in China. Der Transport zum Baustandort in Polen erforderte eine akribische Planung, einschließlich Routenanalysen, Genehmigungen und der Anpassung von Konstruktionen an Transportrestriktionen. Beispiele dafür sind der Transport per Schiff über die Oder, der Einsatz spezieller Eisenbahnwagen sowie die Nutzung alternativer Seerouten, um geopolitische Risiken zu umgehen.
Da es sich um ein Brownfield-Projekt handelt, also um die Umnutzung eines bestehenden Industriestandorts, traten unvorhergesehene Herausforderungen auf. Unterirdische Hohlräume und Leitungen, die während der Bauarbeiten entdeckt wurden, gefährdeten sowohl den Zeitplan als auch die strukturelle Integrität. Die Beteiligten entschieden sich für eine zusätzliche geophysikalische Untersuchung des gesamten Geländes und passten die Gründungsplanung entsprechend an. Entscheidend war dabei die schnelle, gemeinsame Entscheidungsfindung der Projektbeteiligten.
Mit Stand September 2025 befindet sich das Projekt in einer fortgeschrittenen Phase. Die Fundamente für die Hauptmaschinenhalle, den Kühlturm, die Gas- und Dampfturbinen sowie die Stromtransformatoren sind fertiggestellt. Der Stahlbau sowie die Montage der Hauptkomponenten sind im Gange. Die präzise Planung, die enge internationale Zusammenarbeit und die konsequente Nutzung digitaler Werkzeuge haben maßgeblich dazu beigetragen, dieses komplexe Projekt in einem herausfordernden Umfeld erfolgreich voranzutreiben.
Keine Kommentare
Thomas Bertram ist seit 1996 Teil von Siemens. Er verantwortete 12 Jahre lang die Bauausführung, bevor er ins Projektmanagement wechselte. Heute führt er Projekte als zertifizierter IPMA® Level A – Certified Project Director, IPMA®.
thomas.bertram@siemens-energy.comRajesh Kumar begleitet Kraftwerksprojekte seit 1993. Seit 1998 arbeitet er bei Siemens mit einem Schwerpunkt auf Planung und Bauausführung vor Ort. Rajesh Kumar und Thomas Bertram zählen zu den erfahrensten Fachleuten im internationalen Kraftwerksbau. Beide bringen tiefes technisches Know-how und jahrzehntelange Praxis in komplexen Großprojekten mit.
rajesh.kumar.ext@siemens-energy.com
Kommentare